5.
Es wurde schon dämmrig, als wir hinüber in den Roten Ochsen stapften. Durch Antoines geschicktes Feilschen beim Pferdekauf hatten meine Auftraggeber so viel Geld gespart, dass ich uns ohne schlechtes Gewissen einen Krug feinsten italienischen Rotweins ausgeben konnte.
Aus dem einen Krug wurden drei oder vier, dann verlor ich ein wenig den Überblick. Mein Knappe hatte mir die Behandlung in der Badestube wohl wieder verziehen, denn er sprach ebenfalls ordentlich meinem Wein zu.
Irgendwann setzten uns die Büttel auf die Gasse: Sperrstunde.
Schwankend rappelten wir uns auf und stützten uns dabei gegenseitig. „Pirmin, ich l…l…liebe dich“, lallte Antoine feucht in mein Ohr.
Ohje, vielleicht hätte ich ihn besser nicht so viel trinken lassen sollen.
„Komm, wir gehen nach Hause“, versuchte ich, ihn in Richtung Neckar zu lotsen.
Er riss sich los, schlug ziellos um sich. „Pirmin, isch liebe disch!!“, krakeelte er in die nächtliche Gasse, bevor er sich vornüber beugte und auf seine Schuhe kotzte.
Mit einiger Mühe fanden wir den richtigen Hauseingang und polterten die Treppen nach oben in mein Zimmer.
Am nächsten Morgen wurde ich wach, als Panzer in der Straße auffuhren und unser Haus unter schweren Artilleriebeschuss nahmen. Ich fuhr auf – und blickte in die nur wenige Zentimeter entfernten, blutunterlaufenen Augen meines Knappen.
Die vermeintlichen Granaten-Einschläge hallten von der Türe her und jetzt vernahm ich auch das hämische Gesäusel meiner Zimmerwirtin, die mit der Faust gegen das Türblatt hämmerte und schadenfroh rief: „Herr von der Grün, sie wollten heute früh geweckt werden!“
Ich hätte sie erwürgen können.
Unter Qualen setzte ich mich auf, schleuderte einen Stiefel gegen die Wand und dankte meinem Schöpfer, dass das Gehämmer endlich verstummte. Mühsam kroch ich zu meiner Truhe und kramte darin nach dem Zauberkästchen – eine Holzschatulle mit schweren Eisenbeschlägen und einem verborgenen elektronischen Sicherheitsschloss.
Das Kästchen enthielt eine medizinische Minimal-Ausrüstung, die mir meine Firma zur Verfügung gestellt hatte. Sie sollte mir in einem Notfall helfen, auch unter schwierigsten Bedingungen am Leben zu bleiben.
Dieser Notfall war nun eingetreten.
In einem Becher löste ich zwei Tabletten Alka-Seltzer in chemisch reinem Wasser auf. Während ich dem Sprudeln zusah, hörte ich ein erschrecktes Luftholen hinter mir.
Achja, ich war ja nicht allein im Zimmer.
„Trink!“, befahl ich und reichte den Plastik-Becher nach hinten.
„Was ist das?“, fragte Antoine entgeistert.
„Quatsch nicht lange, runter damit.“
Er trank brav den Becher aus und ich freute mich über sein Vertrauen.
Die nächsten zwei Tabletten waren für mich, dann verschloss ich das Kästchen wieder und packte es weg.
Jetzt wäre ein starker Kaffee gut, aber das ließ sich in der gesamten bekannten Welt leider nicht auftreiben … Stattdessen tranken wir Dünnbier und zwangen etwas Rübenmus hinunter.
Danach sah der Tag schon besser aus.
Das Alka-Seltzer wirkte und ich musste grinsen, als Antoine testweise den Kopf schüttelte und sich darüber wunderte, dass die Schmerzen so schnell verschwunden waren.
Ich kündigte mein Zimmer, packte mein Bündel und schon marschierten wir zum Pferdehändler. Tatsächlich standen unsere Rösser wie vereinbart bereit und auch die Einkäufe, die wir tags zuvor getätigt hatten, waren ordentlich geliefert worden.
Wir saßen auf.
… Okay, Antoine saß auf, während ich an der Flanke meines Gauls wie ein Gummiball auf und nieder hüpfte. Schließlich saß mein Knappe wieder ab und half mir per Spitzbubenleiter in den Sattel. Wenn mir jetzt noch jemand zeigte, wo sich Gas und Bremse befanden, konnte es losgehen …
Mein Wallach war zum Glück gutmütig. Was auch immer ich versuchte – rechts und links am Zügel ziehen, mein Gewicht verlagern, die Fersen in die Flanken stemmen – er ignorierte alles mit stoischer Ruhe und folgte stattdessen einfach Antoines Stute.
Gut, dann ritt der Herr eben hinter seinem Knappen her! Mir doch egal. Ich legte schließlich keinen Wert auf Etikette. Nur das freche Grinsen des Rotschopfs zupfte an meinem Ehrgefühl. Ich würde ihn mal sehen wollen, wie er in meinem Sportwagen auf dem Beifahrersitz schwitzte, wenn ich die Tachonadel auf 210 hochjagte … Hmpf!
Der Weg neckarabwärts war bequem und langweilig. Wir kamen gut voran und durchquerten in der Rheinebene immer wieder lichte Wälder und die Äcker und Felder von Kleinbauern, die sich ehrfürchtig vor Antoine verneigten – und mich ignorierten. Ärmliche Dörfchen mit windschiefen Hütten reihten sich aneinander.
Ich war auf meine Geburtsstadt Mannheim gespannt und malte mir idyllische Fachwerkhäuser um einen belebten Marktplatz aus.
In einem etwas größeren Dorf hielt mein Knappe an. Schweine suhlten sich im Matsch und an eine kleine Holzkirche lehnte sich ein stallähnliches Gebäude, das wohl eine Art Gasthaus darstellen sollte.
Erwartungsvoll drehte sich Antoine zu mir um.
„Da wären wir, Herr.“
„Was soll das heißen: Da wären wir?“
„Ihr wolltet doch nach Mannheim“, erkundigte er sich verwundert.
Ich seufzte. Okay, das hätte ich wissen müssen. Mannheim würde erst ein paar Jahrhunderte später zur Stadt ausgebaut werden. Trotzdem war ich enttäuscht.
Die trostlose Kneipe sah wenig einladend aus und es war ja erst kurz nach Mittag.
„Wie weit ist es noch bis Speyer? Und gibt es dort ein ordentliches Gasthaus?“, fragte ich zweifelnd.
Antoine lachte. „Speyer ist freie Reichsstadt. Und Bischofssitz. Da gibt es Gasthäuser für jeden Geschmack und Geldbeutel – genauso wie Badestuben“, fügte er mit einem wissenden Grinsen hinzu. „Wenn wir uns sputen, können wir es schaffen, bevor die Tore geschlossen werden.“
Na, dann.
Türchen 5
- lunacy Verified
- Moderator
- Beiträge: 2162
- Registriert: 24 Aug 2015, 15:49
- Wohnort: Niedersachsen
- Hat sich bedankt: 272 Mal
- Danksagung erhalten: 131 Mal
- Geschlecht:
Re: Türchen 5
Heute hole ich die Story mal wieder nach oben...
Man muss sich ja echt zusammenreissen, dass man nicht weiterliest... schließlich sind ja alle Teile schon frei verfügbar. Aber hey, mit dem Schokoadventskalender klappts ja auch, dass man immer nur EIN Türchen öffnet.
Lieber bluemoon, dieses Geschichte war mir bis dato unbekannt, aber ich verschlinge sie nahezu. Sehr anregend und wie immer mit genügend Hintergrundwissen geschrieben! Bin gespannt wie es weitergeht....
Ach ja, und Dank auch an Mike, der dieses Schätzchen, das leider damals sehr dürftig kommentiert wurde, wieder ans Tagelicht geholt hat!
Man muss sich ja echt zusammenreissen, dass man nicht weiterliest... schließlich sind ja alle Teile schon frei verfügbar. Aber hey, mit dem Schokoadventskalender klappts ja auch, dass man immer nur EIN Türchen öffnet.
Lieber bluemoon, dieses Geschichte war mir bis dato unbekannt, aber ich verschlinge sie nahezu. Sehr anregend und wie immer mit genügend Hintergrundwissen geschrieben! Bin gespannt wie es weitergeht....

Ach ja, und Dank auch an Mike, der dieses Schätzchen, das leider damals sehr dürftig kommentiert wurde, wieder ans Tagelicht geholt hat!
Viele Grüße von
lunacy
lunacy

Re: Türchen 5
Das freut mich jetzt aber, Lunacy, daß Dir die Geschichte auch gefällt. Ich dachte schon ich wäre Bluemoon's einziger Fan! . . . ha, ha, ha . . . das hat der Gute nicht verdient! . . . grins . . .
Ich gestehe mir die Geschichte im Sommer bereits einmal ausgedruckt und an meinem Lieblings-Weiher nackt in der Sonne gelesen zu haben . . . eine sehr reizvolle Erinnerung hängt davon noch in meiner Erinnerung fest . . . *rot werd* . . . und da habe ich mir eben schon vorgenommen, wir jetzt, im Advent, sie mir Türchen für Türchen nochmal vorzunehmen.
Allein das hier wieder, mit der Kopfschmerz-Tablette und dem Dörfchen Mannheim . . . köstlich!
Nein, hat er einfach gut gemacht unser Bluemoon, kann man nicht anders sagen!
Lob!
Ich gestehe mir die Geschichte im Sommer bereits einmal ausgedruckt und an meinem Lieblings-Weiher nackt in der Sonne gelesen zu haben . . . eine sehr reizvolle Erinnerung hängt davon noch in meiner Erinnerung fest . . . *rot werd* . . . und da habe ich mir eben schon vorgenommen, wir jetzt, im Advent, sie mir Türchen für Türchen nochmal vorzunehmen.
Allein das hier wieder, mit der Kopfschmerz-Tablette und dem Dörfchen Mannheim . . . köstlich!
Nein, hat er einfach gut gemacht unser Bluemoon, kann man nicht anders sagen!
Lob!