
Kapitel 1
Die Zugfahrt von München nach Berlin dauert selbst mit dem ICE auf der schnellsten Strecke einige Stunden. Genug Zeit, um mal wieder ein gutes Buch zu lesen, ein spannendes Gespräch mit völlig Fremden anzufangen oder einfach nur auszuruhen und zu dösen. Sarah tat nichts von all dem, sondern starrte stattdessen tief in Gedanken versunken aus dem Fenster. Während draußen die Wiesen, Wälder und Dörfer mit beinahe 300 Sachen vorbei rauschten, nahm sie die Eindrücke gar nicht wirklich auf, sondern lies den heutigen Tag Revue passieren und konnte es immer noch nicht so richtig glauben.
Sarah war gerade 18 geworden, ein bildhübsches junges Mädchen von schlanker, zierlicher Figur, mit lockigen braunen Haaren, dunklen, geheimnisvollen Augen und einem noch recht schüchternen Lächeln. Sie hatte ihr frisch gebackener Abitur in der Tasche, und dazu gleich auf Anhieb den begehrten Studienplatz an der LMU! Außerdem hatte sie sich nach langen, unglücklichen Monaten vor einiger Zeit endlich getraut, ihre festgefahrene Beziehung mit Tom zu beenden. Der Geruch von Freiheit hing in der Luft! Alles lief also wie am Schnürchen ... jedenfalls bis ihr klar wurde, dass es keine einfache Aufgabe war, in München eine Wohnung zu suchen, die zu ihrem kleinen Budget passen würde.
Ihr Tag heute war furchtbar anstrengend, jede Stunde war durchgetaktet. Sie hatte vorab im Internet Besichtigungstermine vereinbart und ist dann gestern zeitig angereist. Nach einer mehr oder weniger erholsamen Nacht im Bed&Breakfast begann ihre erste WG-Besichtigung schon um 9 Uhr. Obwohl es wirklich keine besonders große, schöne oder günstige Wohnung war, war der Andrang überwältigend: Es waren bestimmt 100 Leute da, die in Gruppen zu zehnt durchgeschleust wurden. Nachdem die ersten fünf Termine genau so oder ähnlich abgelaufen waren, hatte Sarah die Hoffnung fast aufgegeben. Ihr Traum von München, so kurz vor dem Ziel, schien ihr vor den Augen zu zerrinnen, die Chancen dieses "Verfahren" zu überstehen konnte sie sich ausrechnen, dumm war sie schließlich nicht. Nur ein letzter Besichtigungstermin war noch offen, und der war es, der Sarah nun so zu denken gab. Zunächst schien alles zu gut um wahr zu sein: Die Lage war spitze, das Zimmer hell und geräumig, die Miete erstaunlich gering, und ihre beiden potentiellen Mitbewohner Max und Lisa machten einen netten ersten Eindruck. Außerdem war das die einzige Wohnung, die sie sich in Ruhe alleine anschauen konnte, andere Bewerber waren nicht da. Dass sie ein Bewerbungsschreiben mit Bild einschicken musste, um an den Besichtigungstermin zu kommen machte sie auch nicht stutzig, sie konnte sogar verstehen, dass man bei diesem Ansturm eine Vorauswahl treffen wollte.
Nachdem Sie das Zimmer in Ruhe angesehen hatte, fragte sie vorsichtig, wo der Haken an der Sache ist, und ihr Gefühl sollte sie nicht im Stich lassen. Lisa und Max tauschen daraufhin einen Blick aus, drucksten eine Weile herum und führten sie schließlich in die Küche. Sarah brauche einen Moment um zu verstehen.. und dann realisierte sie, was hier falsch war: Rechterhand war die Küchenzeile mit Herd und Spüle, stirnseitig der Esstisch und dazwischen an der Wand.. Fließen, ein Waschbecken, eine Nasszelle und eine Toilette, mitten in der Küche, nur abgegrenzt von einem Plastik-Duschvorhang, der nicht mal sonderlich blickdicht war!
Sie stand mit offenem Mund da und wusste gar nicht was sie sagen sollte, als Lisa auch schon zu einer Erklärung ansetzte: "Also.. das ist baulich bedingt. Es ist eine Altbauwohnung und man konnte hier nur an dieser einen Wand Wasserleitungen legen. Der Vermieter hat damals keine Zwischenwand eingezogen und heute.. naja, wir haben anfangs einige Male nachgefragt, aber die Wohnung vermietet sich wohl auch so und wir haben uns inzwischen daran gewöhnt, irgendwie. Nur Simone ist nie so richtig damit klar gekommen, und deshalb ist das Zimmer dass du gerade gesehen hast jetzt frei geworden."
Sarah stand wie angewurzelt da und brauchte einen Augenblick, um die Situation zu verdauen. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf.. Max und Lisa hatten keine Ahnung, welche Gefühle dieser Moment in ihr auslöste, wie sollten sie auch? Woher sollten die beiden von Sarahs heimlichsten Fantasien wissen, die sie ja selbst ständig zu verdrängen versuchte? War das hier so etwas wie Schicksal?
Nun saß sie hier im Zug und ging diesen Moment immer wieder in Gedanken durch. Sie verfluchte sich selbst dafür, dass sie keinen vernünftigen Satz mehr herausgebracht und sich übereilt verabschiedet hatte. Sie war kurz davor, vor Verwirrung in Tränen auszubrechen, als ihr Handy vibrierte.